Geschichten & warum man sie erzählen muss

Eine Gute-Nacht-Geschichte über Geschichten:
Warum man erzählen muss
Von Ernst Schmiederer

Sie hatten den fremden Mann begrüßt und saßen nun auf unbequemen Stühlen in einem abgewohnten Raum, der ihnen zu Beginn des Schuljahres als Klassenzimmer zugewiesen worden war. Die Luft war irgendwie dick, als ob man sie auch kauen und schmecken könnte. Warme Füße. Pausenbrote. Kalter Zigarettenrauch. Schweiß. Süßes Parfum. All dies zusammen mit der Tatsache, dass sie es stundenlang gemeinsam hier aushalten mussten, nannte man Schule.

Woher ihre Eltern kommen, wollte der Mann wissen.

Aus Mürzzuschlag. Aus Tschetschenien. Vom Land. Aus Kroatien. Aus Wien. Die Mutter aus Floridsdorf. Aus Nigeria. Der Vater aus einem Dorf in Ungarn. Aus Beograd.

Und sie selbst? Wo seid ihr geboren, fragte er.

Im SMZ Ost. In Zagreb. In Nigeria. Hier, in Wien. In Österreich. In Grosny. Ich bin in Wien geboren, aber meine Eltern sind aus Bagdad, der Hauptstadt des Irak. Ich heiße Melissa und meine Wurzeln liegen in Serbien und Mazedonien.

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Was der alles wissen will. Was geht ihn das an? Was fragt er uns Löcher in den Bauch? Aus welcher Familie wir kommen?

Aus einer armen. Aus einer Großfamilie. Verrückte Familie. Lehrerfamilie. Arbeiterfamilie. Strenge Familie. Zerstrittene. Reiche Familie. Aus einer Patchworkfamilie.

Mit welcher Eigenschaft wir uns selbst am besten beschrieben fühlen?

Fröhlich. Freundlich. Nett. Guter Sänger. Draufgängerisch. Nachdenklich. Langweilig. Unberechenbar. Hilfsbereit.

Noch während sie Wort für Wort mit Kreide an die Tafel schrieben – lustige Familie, religiöse Familie; sportlich, faul, ehrlich – verteilte der Mann Schulhefte mit bunten Einbänden. Er wollte ihre Geschichten haben. Mit einem Stift sollten sie in die Hefte schreiben, sollten erzählen, wer sie sind. Woher sie kommen. Wohin sie wollen. Wie sie leben. Was sie essen. Wovon sie träumen. Sie sollten in der Ich-Form über sich berichten. Sie sollten sich also selbst portraitieren.

Am 07.11.1996 wurde ich im 13. Bezirk geboren. Ich bin von meiner Mama und meinen Großeltern aufgezogen worden. Meine Mama hat mir Ehrlichkeit und die wichtigen Dinge für das Leben beigebracht. Mein Vater hat es nicht einmal geschafft, sich bei mir zu melden. Jetzt, wo ich 16 Jahre alt bin, weiß er nicht einmal wie ich ausschaue.

Mein Name ist Jovanka, ich bin 17 Jahre alt, habe einen 11jährigen Bruder und wohne mit meinen Eltern in Wien. Ich wurde in der Hauptstadt Beograd in Serbien geboren. Mit 5 Jahren kam ich dann nach Österreich mit meiner Mutter. Deutsch habe ich sehr schnell gelernt, auch durch die Hilfe meiner Nachbarin, die Serbin war und in Wien aufgewachsen ist.

Ich bin Sohn eines stolzen, aus Salamanca kommenden Spaniers und einer aus einfachen Verhältnissen kommenden Frau aus St. Pölten. Ich bin zwar hier in Österreich aufgewachsen, dennoch ist eins meiner größten Hobbies das Verreisen. Ich glaube, das kommt von meinen Eltern. Sie haben mich immer Respekt vor anderen Kulturen & Menschen gelehrt, so dass das Interesse für eben diese geweckt wurde.

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Sie saßen und schrieben, dachten und erzählten. Sie hatten sich auf die Suche gemacht nach ihren Wurzeln und ihrem Sein, nach ihrer Herkunft, nach ihrer Identität.

Bis ich ungefähr zwei Jahre alt war, habe ich mit meiner Mutter in einem Mutter-Kind-Heim im 11. Bezirk gewohnt. Danach bin ich zu meiner Oma gekommen, die mich bei sich zuhause im 20. Bezirk aufgenommen hat. Meinen Freund Manuel habe ich 2010 kennengelernt und bin noch immer überglücklich mit ihm. Ich weiss noch nicht, ob ich heiraten möchte. Auf jeden Fall möchte ich zwei oder drei Kinder. Ich glaube an Gott und bevorzuge Respekt, gute Manieren und Höflichkeit bei jedem Menschen, weil man das auch von mir erwarten kann.

Sie erzählten, weil ihnen der Mann einen Floh ins Ohr gesetzt hatte: Er wollte aus ihren Texten Bücher machen, er wollte ihre Geschichten haben und sie damit zu Autorinnen und zu Autoren machen.

Wir Menschen, hatte der Mann zum Abschied einen berühmten Philosophen zitiert, wir Menschen sind unsere Geschichten. Geschichten muss man erzählen. Darum müssen wir Menschen erzählt werden. Wer auf das Erzählen verzichtet, verzichtet auf seine Geschichte. Wer auf seine Geschichte verzichtet, verzichtet auf sich selber.

Man muss also erzählen.

Und so erzählten sie.

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Bestellt & gedruckt wurde dieser Text von: WIR. Das Mitgliedsmagazin der Kinderfreunde Österreich; Ausgabe 3/2013.

Auf den Bildern, die wir der Fotografin Truc Phan verdanken, ist die 2BL bei der Arbeit zu sehen – und zwar im Medienzentrum MUMELZ der BHAK 22, einer neuen und ausgesprochen schönen Schule in der Wiener Donaustadt.

Ernst Schmiederer arbeitet als Journalist („Die Zeit“), führt das Medienlabor Blinklicht und sammelt in dem Projekt WIR. BERICHTE AUS DEM NEUEN OE die Geschichten von jungen Menschen. Wer seine Geschichte erzählen möchte, schickt sie an info@wirberichten.at Als Lohn für die eingesandten Geschichten ist für jede Autorin und jeden Autor ein Exemplar des Buches IMPORT/EXPORT: Lauter Ausländer, noch mehr Ausländer reserviert.